Als das Fernsehen und die modernen Medien noch nicht diesen Raum eingenommen hatten, den sie heute an Stellenwert haben, da gab es nicht selten in deutschen Haushalten die Rezitation von Gedichten, die von den Kindern auswendig gelernt wurden und dann, bisweilen von dezenter Hausmusik begleitet, vorgetragen wurden. Dieses führte dazu, dass neben dem Gefühl für die alten Meister und die eigene Sprache auch ein Gemeinschaftsgefühl in der Familie gestärkt wurde, denn statt wie heute stumm vor dem Fernseher oder dem Bildschirm zu sitzen, ergab sich so ein kulturelles Kollektivgefühl. Doch man täte der heutigen Zeit Unrecht, wenn man die komplett verdammte und die modernen Medien als rein kulturell minderwertig im Vergleich zu Früher betrachten würde. Die Zeiten waren anders, doch ob sie deswegen auch per se besser waren, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Denn auch in den neuen Kommunikationszeiten bieten sich neue Möglichkeiten und Formen des Miteinanders, und auch die Kultur kann von den neuen Medien profitieren und sich weiter entwickeln, etwa durch Verknüpfung von verschiedenen medialen Erfahrungen. War es früher beispielsweise nur möglich, in einer Oper das Libretto zur Hand zu nehmen, um den Arien auch textlich zu folgen, so können heute bei einer Übertragung im Fernsehen oder Internet auf einem separaten Medienkanal die Lyrics direkt mit übertragen werden, wahlweise in der originalen Sprache oder einer Übersetzung in eine Sprache nach Wahl, wodurch vielleicht die Werktreue nicht immer eingehalten wird, das Verständnis und der Zugang zum Werk aber durchaus erhöht wird, was auch Skeptiker überzeugen oder zumindest milder stimmen dürfte.